Bodo Morawe
Das Kunstwerk als Palimpsest
Über den ästhetischen Schein und die Form-Inhalt-Dialektik
der Green Screens von Markus Döhne
Ginge da ein Wind
Könnte ich ein Segel stellen.
Wäre da kein Segel
Machte ich eines aus Stecken und Plane.
BRECHT, BUKOWER ELEGIEN
Es gibt Kunstwerke, die faszinieren auf den ersten Blick ohne dass der Betrachter schon gleich zu sagen wüsste, warum das so ist. Sie lassen sich jedoch dechiffrieren, sobald dieser, der Betrachter, die Herausforderung annimmt, die von ihnen, den Werken, ausgeht. Beides, das Faszinosum des ersten Blicks und die zunächst nur schwer zu entschlüsselnde, aber gleichwohl vorhandene und gezielt durchschlagende Provokation, kennzeichnet die von Markus Döhne realisierte Kontrastästhetik, die das Kunstwerk in einer eklatanten Weise zum Palimpsest macht.
Das künstlerische Verfahren, das Döhne als Graphiker, Benutzer zeitgenössischer Photographien und Siebdrucker, aber auch als Meister der räumlichen Inszenierung seiner Tableaus im Sinne eines raffinierten intermedialen ‚crossover‘ anwendet, lässt die Green Screens, Refugee Series. ‚prima vista‘ als genuine Dokumente des l’art pour l’art erscheinen. »Selig scheint es in ihm selbst«, könnte deshalb, bei einer naiven Betrachtung, das Motto dieser ‚Bilder‘ sein, die über die Aura abstrakter Gemälde verfügen, wenn es denn erlaubt wäre, diese der ästhetischen Reflexion seit je besonders zugängliche biedermeierliche Gedichtzeile (sie stammt aus dem Gedicht von Mörike über eine Lampe) auf die Kunstwerke zu beziehen, die wie in der Ausstellung im Turm der Kölner Lutherkirche als freischwebend hängende Gebilde den leeren, wenn nicht gar öden Raum strukturieren und ihn durch das formalistische Spiel der Formen und Farben verzaubern. Indem Döhne die aus zeitgenössischen Photos geschnittenen, effektvoll verfremdeten Bildfragmente, deren fast körperlich schmerzhafte Realistik sich ins Schattenhafte verflüchtigt hat, auf eine mit grünlicher Photoemulsion beschichtete gelbe Polyestergaze projiziert, gibt er seinen Green Screens eine Leuchtkraft, die nicht nur die Erinnerung an Mörikes ‚Lampe‘ rechtfertigt, sondern diesen grünen ,Bildschirmen‘ zugleich das Siegel künstlerischer Autonomie aufdrückt. Selig scheinen die Fluchtbilder in sich selbst.
Aber die Mörike-Assoziation geht gleichwohl in die Irre. Denn die Leuchtkraft, die den hängenden Gaze-Tableaus den auratischen Glanz autonomer Kunstwerke verleiht, ist kein ästhetischer Selbstzweck. Kennzeichnet das expressive Leuchten, die durch die Gaze verbürgte Transluzenz, die Bildoberfläche, so läßt sich doch nicht übersehen, dass sich hinter dem schönen ‚Schein‘, der die bildliche Textur bestimmt, ein zweiter Bildtext verbirgt, der mit den massenhaften Fluchtbewegungen der Gegenwart das dramatische Schibboleth einer von Hunger, Elend, Unterdrückung, Krieg und Barbarei gezeichneten Epoche zum provokanten Gegenstand ästhetischer Produktion und politischer Reflexion macht. Diese politische Reflexion ist eingreifendes Denken, dem im herausfordernden Denkanstoß zugleich die konsequente Kampfansage, eine Kampfansage gegen politische Erniedrigung, soziale Demütigung und ökonomische Ausbeutung, inhärent ist, und verbindet sich mit einem kontrastästhetischen Verfahren, das das Kunstwerk in einem ebenso modernen (avantgardistischen) wie herkömmlichen (altbewährten) Sinne zum hintergründigen Palimpsest, einem raffiniert inszenierten oeuvre d’art mit doppeltem Boden, macht.
Was ist ein Palimpsest? Das Palimpsest ist ein Text, hinter dem sich ein zweiter, ein programmatischer und subversiver Subtext, verbirgt – ein Text also, der über eine exoterische und esoterische Dimension verfügt, insofern durch seine besondere Form-Inhalt-Dialektik charakterisiert ist und vor allem in Zeiten der Unfreiheit, aber auch in den Epochen eines allmächtigen politischen und sozialen Konformitätsdrucks, dem nicht angepassten, dem widersetzlichen Künstler als ein nicht nur den Umständen entsprechendes, sondern auch wirksames Ausdrucksmittel dient. In den Green Screens kann der polyvalente Photograph / Graphiker / Skulpteur deshalb mit all den Bedeutungsvarianten spielen, die ihm das ‚screen‘-Konzept zur Verfügung stellt. Ein screen ist ein Schirm, eine Blende, ein Filter, ein Raster, eine Projektionswand, der Film, das Kino, die Maskierung, die Verschleierung und die Tarnung. Es macht das Wesen der leuchtenden Flucht-Tableau aus, dass sie alles zusammen sind: ein Schirm und eine Projektionswand ebenso wie ein Mittel der Maskierung, der Verschleierung und der Tarnung. Gleichzeitig ist das Palimpsest in einer hervorragenden Weise geeignet, die am Archiv versteinerter kollektiver Bilder orientierte, auf sie dialektisch bezogene Gedächtnisarbeit, die im Sinne der geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin darauf gerichtet ist, die Überlieferung »von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen«, mit den spielerisch ästhetischen Erfordernissen einer ausdifferenzierten, ihren eigenen Gesetzen unterworfenen Kunstsphäre zu versöhnen. Wie schon Baudelaire geahnt (und Freud dann gewusst) hat, ist gerade das Gedächtnis dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihm die verschiedenen Schichten der Erinnerung überlagern und dabei stets die eine von der anderen verformt, verdrängt, verdeckt oder auch ausgelöscht wird. So wie sich das Kunstwerk seiner Form nach als Palimpsest erweist, ist das Palimpsest als Speicher das Medium einer vom Kunstwerk inaugurierten Gedächtniskunst, seiner vom Künstler den Zeitumständen abgetrotzten, auf zerstückelte Realitätspartikel angewiesenen und sie artistisch verfremdenden ‚ars memorativa‘.
Für Markus Döhne gilt, dass er, wie Hans-Peter Riese 1998 bei der Eröffnung der Ausstellung im Foyer des Hessischen Rundfunks betont hat, zu den wenigen zeitgenössischen Künstlern gehört, der sich mit politischen Inhalten auseinandersetzt und nicht ausschließlich formalen Experimenten verfällt. Für ihn gilt gleichzeitig, dass er im Sinne Brechts als politischer Citoyen über die List verfügt, die erforderlich ist um die Wahrheit nicht nur zu erkennen, sondern auch zu verbreiten. »Zu allen Zeiten wurde zur Verbreitung der Wahrheit, wenn sie unterdrückt und verhüllt wurde, List angewandt« hat der Stückeschreiber in seinem literarischen Manifest über die Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit bemerkt und auf das Beispiel des Konfu Tse verwiesen, der, indem er nur gewisse Worte in einem alten reaktionären Geschichtskalender verändert hat, »einer neuen Beurteilung der Geschichte« Bahn gebrochen habe. Auch die ‚Veränderungen‘, die Döhne beim bruchstückhaften Zitat photographischer Zeitdokumente vornimmt, sind nur geringfügig und doch zugleich darauf gerichtet, nicht nur eine neue Beurteilung der Geschichte zu fördern, sondern dadurch auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen er ihre eigene Melodie vorsingt, zum Tanzen zu bringen.
Dass bei diesem subversiven Geschäft gerade die »Eleganz« des Stils von Nutzen sein und ein »hohes« künstlerisches »Niveau« als Schutz dienen kann, gehört mit zu den wesentlichen Einsichten, die Brecht in der Programmschrift formuliert und Döhne in seinen transluziden Fluchtbildern zum Form-, Gestaltungs- und Darstellungsprinzip gemacht hat. Es ist nicht zuletzt die dialektische Spannung (und in einem bestimmten Sinne: der nicht aufzulösende Widerspruch) zwischen der schmerzlichen Schönheit der Form und der radikalen Unbestechlichkeit des politischen Gedankens, die den Betrachter nicht zur Ruhe kommen läßt, den für die Bildrezeption entscheidenden Denkanstoß gibt und maßgebend den dem Palimpsest-Charakter des Werks geschuldeten wirkungsästhetischen Prozess bestimmt. Erst im reflektierenden Betrachter, der sich nicht mit der Rolle des passiven Kunstkonsumenten zufrieden gibt und es unterlässt, die den Fluchtbildern eingeschriebene Form-Inhalt-Dialektik zu stornieren, kommen die Green Screens zu sich selbst.
Beharrt Markus Döhne ebenso wie Bert Brecht auf dem eingreifenden Denken, so ist er ebenso wie der Dichter der Buckower Elegien der Dialektik von epochaler Krise und ihrer künstlerischen Kritik verpflichtet. Die linke Melancholie ist ihm fremd. Denn er verfügt über ein klares politisches und historisches Bewusstsein. Seine Green Screens sind dafür – genauso wie die früheren Petrograd Tubes und der spätere Narcotic Nirvana Nightmare – ein untrügliches Zeichen. Sobald die Winde wehen, dürfte deshalb der Künstler nicht zögern, den Zeitgenossen ein wetterfestes Segel zu setzen. Da ihm die politische Wetterlage (oder sagen wir unverblümt: die Epoche) dies vorerst versagt, macht er uns eines aus Stecken und Plane.
Paris, Ende Dezember 2007
aus:
Markus Döhne,
Transterrats,
Valencia 2008