Hans-Peter Riese
Die Zeit zurückbiegen
Zum Stellenwert der Fotografie im Werk von Markus Döhne
„Austerlitz sagte mir, dass er hier manchmal stundenlang sitze und diese Photographien, oder andere, die er aus seinen Beständen hervorhole, mit der rückwärtigen Seite nach oben auslege, ähnlich wie bei einer Partie Patience, und dass er sie dann jedes Mal von neuem erstaunt über das, was er sehe, nach und nach umwende, die Bilder hin und her und übereinander schiebe, in eine aus Familienähnlichkeiten sich ergebende Ordnung, oder auch aus dem Spiel ziehe, bis nichts mehr übrig sei als die graue Fläche des Tisches […]“. [1] Der Schriftsteller W.G. Sebald beschäftigt sich in seinem Roman Austerlitz, dem dieses Zitat entnommen ist, ausführlich mit Fotografie, obwohl er das Medium nicht zum Thema macht. In den Text eingeblendet sind Fotos, die manchmal den Text illustrieren, manchmal, ganz wie Austerlitz den Leser irritieren, überraschen, zum Nachdenken anregen, ratlos lassen.
Was also bedeutet uns ein Foto? Wir sind heute, zumal im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung, von Bildern umstellt, unser Bewusstsein, so dürfen wir vermuten, wird sehr viel stärker durch diese Fotos manipuliert als wir selber das reflektieren, also unter Kontrolle haben. Dies gilt selbstverständlich um so mehr, je ferner uns die in der Fotografie dargestellte Realität liegt. Welche Vorstellung haben wir von einem historischen Ereignis, das uns nur durch das fotografische Bild vermittelt ist? Können wir ohne Weiteres annehmen, dass das Foto wirklich die Realität reproduziert – ist es historisch wahr?
Selbstverständlich wissen wir als aufgeklärte Zeitgenossen, dass Fotografie manipulieren kann. Sowohl was die technischen Bearbeitungsmöglichkeiten angeht als auch was die reine Abbildung betrifft, sind Fotos natürlich nicht DIE Realität, sie können im besten Fall lediglich eine Annäherung erreichen. Austerlitz, den wir eingangs zitieren, sagt zu seinen Foto-Sitzungen, er müsse sich dann hinlegen und warten, bis er spüre, „wie die Zeit sich zurückbiegt in mir“. Ein Vorgang also, der nicht anders zu begreifen ist, als ein sich Bewusst werden dessen, was man gar nicht wirklich wahrnimmt auf einem Foto.
Markus Döhne verwendet in seinen Arbeiten Fotos auf eine Art und Weise, die diesem Verfahren des Romanhelden Austerlitz sehr ähnlich ist. Auch er nimmt ein Foto nicht als Abbild einer Realität, wie sie auf dem Abzug erscheinen mag, sondern lediglich als Auslöser für einen Bewusstseinsprozess, der in der Kunst seinen Anfang nimmt. Dabei verfährt Döhne allerdings nicht wie Austerlitz, indem er die Fotos umdreht und dann wie Spielkarten aufdeckt um dadurch neue Zusammenhänge gleichsam willkürlich herzustellen, sondern indem er die in einem Foto, zumal einem historischen, verborgenen Realitätsebenen aufdeckt. Dabei ist das Foto eigentlich nur der Ausgangspunkt einer historischen Bewusstseinsrecherche. Wenn er etwa in seinen frühen Petrograd Tubes historische Fotos von der gewaltsamen Niederschlagung einer Demonstration auf dem Nevskij Prospekt in Petrograd, also den Beginn der bolschewistischen Revolution, verwendet, so setzt er damit den ganzen Prozess historischer Assoziationen über die Zeit nach dem Sieg der Revolution in Gang, in dem die Fotos von ihrem Beginn nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Dabei ist aber nicht zu ignorieren, dass wir (und auch der Künstler Döhne) diese Fotos brauchen, um uns ein BILD von eben diesen fern liegenden und vielfach gebrochenen Ereignissen überhaupt machen zu können.
Hier nun setzt der künstlerische Prozess der Verwendung der Fotos in den Bildern von Döhne ein, d.h. die Fotos werden in einem komplizierten Verfahren in ein Kunstwerk integriert, und dadurch selber zu Kunst. Allerdings erkennbar nicht mehr in ihrer Eigenschaft als Fotos, schon gar nicht als Reproduktion von historischer Realität, sondern als Material. Manchmal, z.B. in den Tableaus der Serie Arbeitsspeicher sieht es so aus, als wenn dieser ‚Materialcharakter‘ der verwendeten Fotos durch Abstraktion, oder Dekonstruktion des Fotos selber zustande gebracht würde. Aber das wäre zu wenig um die Methode von Döhne hinreichend zu beschreiben. Tatsächlich lassen sich die originalen Foto, die er verwendet, nie von den historischen Ereignissen, in deren Kontext sie ursprünglich erscheinen trennen.
In der ersten Phase seiner Arbeit verwendet Döhne Fotos aus dem Kontext der linken politischen Bewegung in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei geht es indessen nicht darum, die Ideologie dieser Bewegung durch das Medium der Kunst zu neutralisieren und damit jenseits aller politischen Implikationen neu zur Diskussion zu stellen. Durch das Verfahren, diese Fotos im Siebdruck auf Paraffinblöcke zu bringen und dann mit einer dünnen Wachsschicht noch einmal zu überziehen, werden die Sujets der Fotos in einen merkwürdigen Nebel versetzt. Wir erkennen manchmal noch das Sujet, die Beerdigung Majakowskis beispielsweise oder den Grabstein von Malewitsch, aber das Reproduktionsverfahren wird zum Medium der Relativierung. In den Vordergrund rückt daher stets das eigenständige Kunstwerk, und das Foto, und was immer es für uns als Betrachter evozieren mag, in den Hintergrund. Döhne hat damit eine Methode gefunden, mit deren Hilfe, er zwar sein Anliegen, den historisch-ideologischen Kontext der Sujets in den verwendeten Fotos bewusst zu halten, erreicht, gleichzeitig diesen Kontext aber aus der Debatte um die Wertigkeit, sagen wir die Qualität, seiner Kunst heraus zu halten. Das macht, dass Döhne nicht in erster Linie als politischer Künstler wahrgenommen wird. Tatsächlich ist er dies aber in dem Sinne, dass er in seiner Kunst die unterschiedlichen Schichten des historischen Bewusstseins reflektiert ohne diese zum alleinigen Inhalt zu machen. Wie setzt sich dieses Bewusstsein zusammen und aus welchen Bildern besteht es?
Döhne lässt sich auf keine politische Debatte dabei ein, sondern untersucht seinen Gegenstand anhand von Dokumenten, die im Prinzip jedermann zugänglich sind, allerdings in einem ganz anderen Kontext rezipiert werden. Was von ihnen schließlich in einem Kunstwerk von Markus Döhne aufgehoben wird, ist eine Reduktion des Ausgangsmaterials auf Strukturen, die für sich einen höheren Erkenntnisgrad haben als allein das, was sie optisch repräsentieren.
So werden die Green Screens, Refugee Series. zu einem generellen Monument eines der politisch brisantesten Phänomene des 20. Jahrhunderts, nämlich der nach Millionen zählenden Fluchtbewegung überall auf unserem Globus, unabhängig von Kontinenten, politischen Systemen und zivilisatorischen Entwicklungen. Wir erleben eine Völkerwanderung historischen Ausmaßes, die wir täglich auf den Fernsehschirmen beobachten und die in einer unüberschaubaren Anzahl von Fotos dokumentiert ist. Döhne bricht dieses Phänomen in seinen Green Screens ästhetisch auf Einzelbilder herunter, die eindrucksvoller sind als die große Zahl. Es geht aber nicht um Einzelschicksale, also um Mitleid, sondern es geht um die historische Essenz des Phänomens. Dem trägt auch die Inszenierung der Screens Rechnung. Sie werden nämlich frei in den Raum gehängt und geben so einen Eindruck einer zwischen Freiheit und Unfreiheit auf einem schmalen Grad balancierenden Existenz: nicht des einzeln Dargestellten, sondern unserer Zivilisation.
Dass Döhne die Gelegenheit hatte, diese Screens in Köln im Turm einer Kirche zu zeigen, legte eine zusätzliche Bedeutungsebene frei, war doch der Kirchenraum seit Jahrtausenden eine unantastbare Fluchtstätte für Verfolgte aller Art.
Aber Döhne gibt sich nicht zufrieden mit dieser ideologisch-inhaltlichen Dimension seiner Arbeit. Es geht ihm natürlich vor allem um die ästhetische Anmutung und um deren Stellenwert im Kontext der zeitgenössischen Kunst. Wenn man bedenkt, dass er seit Ende der achtziger Jahre mit Fotos arbeitet und seine Methode ihrer Verarbeitung in seinen Bildern seither vielfach variiert und differenziert hat, so kann an ihn gerade angesichts der Flut der digital bearbeiteten Photoarbeiten der letzten Zeit als einen Visionär besonderer Art begreifen. Döhne hat früh erkannt, dass das Foto als solches gar kein Material für die künstlerische Arbeit darstellt, sondern dass es in der Kunst nur dann eine Legitimation haben kann, wenn es unter zwei Gesichtspunkten verwendet wird. Einmal ist dies bei ihm unverzichtbar der Gesichtspunkt der historischen Reflexion. Nur indem wir uns unseres eigenen Standpunktes in der Geschichte versichern, können wir als bewusst und reflektiert funktionierendes Individuum gelten. Das Material dafür aber können nicht die vielfach manipulierten Derivate einer Realität sein, die wir bereits als eine manipulierte nicht mehr erkennen können. Das Medium der Kunst hebt die Realität deshalb in einem anderen Bewusstseinszusammenhang auf und macht sie zum Ausgangsmaterial neuer Reflexion.
Der zweite Gesichtspunkt hat mit dem Zustand der Kunst als solcher zu tun. Eine sich als zeitgenössisch verstehende Kunst kann nicht davon absehen, die am weitesten entwickelten Methoden der Darstellung zu nutzen. Dass dies im digitalen Zeitalter die Fotografie ist, hat Döhne früh erkannt. Aber erst durch die Verbindung der beiden Ebenen, derjenigen der intellektuellen Reflexion und derjenigen des technischen Entwicklungsstandes der Produktionsmittel, die ihm als Künstler zur Verfügung stehen, hat Döhne eine Methode der Darstellung von historisch-inhaltlichen Phänomenen gefunden, die sich – eindimensional verwendet – der Darstellung entziehen.
Dabei ist nicht zu übersehen, dass er von den frühen Wachsblöcken angefangen bis zu den Green Screens immer wieder technische Methoden gefunden und umgesetzt hat, die in einem dialektischen Verhältnis zu seinen Inhalten stehen. Denn natürlich will Döhne als politisch reflektierter Zeitgenosse mit seiner Serie der Refugees auf ein politisches Desaster, einen Skandal hinweisen. Aber erst durch die fast bis an die Grenze der Abstraktion verfremdete Darstellungsweise gelingt es, das Phänomen als solches so transparent zu machen, dass es jeder politischen Diskussion entzogen nur noch den Tatbestand als solchen repräsentiert. Erst dieser, durch die Kunst erreichte Zuwachs an Wahrheit hebt also die politische Ebene auf, indem sie erst recht als solche erscheint. Das Verfahren ist aus der Kunstgeschichte, zumal der jüngsten, nicht unvertraut und insofern kann sich Döhne auf diese berufen ohne in den Verdacht des Plagiats zu geraten. Wir kennen seit Andy Warhol die Methode der Dekonstruktion von Fotos, indem diese ihrer Funktion der Reproduktion von Realität entkleidet wurden. Döhne hat diese Idee weiter getrieben und gleichsam die Essenz des Fotos und seines historischen Kontextes in seinen Kunstwerken hervorgehoben. Dabei erweist er sich auch als ein Graphiker mit einem fast untrüglichen Gespür für die richtige Transformation von Realität in Kunst. Seine Arbeiten – obwohl inhaltlich sehr wohl mit den längst pathetisch überhöhten Ereignissen der Geschichte verknüpft – ermangeln jeder Pathetik und jedem Pathos. Das erreicht er durch die Methode der Vereinzelung von Sujets und Themen, d.h. ihrer Entkontextualisierung. So erscheinen weder die historischen Ereignisse der Linken in Europa als solche noch die Darstellungen einzelner Flüchtlinge als Teil einer Massenbewegung.
Döhne kehrt die Wirkung, die wir aus unserem Bewusstsein heraus erwarten, in seiner Kunst um, er unterläuft dieses Bewusstsein also um es zu aktivieren. Betrachtet man die Serie der Arbeitsspeicher, so wird diese Methode besonders augenfällig und gleichzeitig auch auf die Spitze getrieben. Wir erkennen eigentlich weder das Sujet, nämlich einen riesigen Zettelkasten eines Archivs – es könnten auch Häuser sein – noch wissen wir, dass es sich um das Archiv des Schriftstellers Peter Weiss handelt. Noch weniger werden wir darüber informiert, welchen Stellenwert Peter Weiss und sein Buch Ästhetik des Widerstands für den Künstler Markus Döhne besitzen. Was also zeigt die Serie der Arbeitsspeicher? Es ist die Verdichtung aller dieser Aspekte und Hintergründe in einem BILD. Das allein dürfte eines Tages, wenn der inhaltliche Kontext verloren sein wird, noch wichtig sein zur Bewertung dieser Bilder. Sichtbar wird die Art, wie Döhne die Fotos des Archivraumes so lange manipuliert, übereinander schichtet und gegeneinander verschiebt, bis sich ein ganz eigenständiges Sujet ergibt, das nun allein sich der Ästhetik des Bildes verdankt, beziehungsweise, diese begründet. Hinter diesem Bild muss die inhaltliche Dimension, die wir zum Verständnis des Bilder nötig zu haben glauben, verschwinden. Wir können also mit einer neuen, nur durch dieses Bild ausgelösten Assoziationskette beginnen. Wir werden dabei aber möglicherweise genau dort enden, von wo Döhnes Überlegungen ihren Ausgangspunkt genommen haben: im Archiv eines Dichters, dem von Peter Weiss oder einem anderen.
Diese Methode der Auslösung von Assoziationen, von Gedankenketten, die sich durch das Kunstwerk in eine bestimmte Richtung bewegen, ist Döhne in besonderer Weise eigen. Genau hier erweist er sich aber auch als ein inhaltlich denkender und arbeitender Künstler. Die Ausgangspunkte seiner Arbeit sind historische Ereignisse, sind politische Vorfälle und sind nicht zuletzt Reflexionen über eine linke Utopie, die sich nicht allein in der Politik erschöpft, sondern in der Kunst aufgehoben bleibt. Dass ihr Verlauf im historischen Kontext des 20. Jahrhunderts, in dem sich der Zeitgenosse Döhne begreift, in aller Regel tragisch war, gibt einen besonderen Anlass, ihn in der Kunst erneut zu thematisieren. Man kann dieses als ein beharrliches Arbeiten an einer Utopie nennen, man kann aber auch daraus die Sehnsucht herauslesen, dass allein die Kunst in der Lage ist, die so beschämend kurze historische Halbwertzeit außer Kraft zu setzen. Oder, um noch einmal Austerlitz aus dem gleichnamigen Roman von W. G. Sebald zu zitieren, nach einem Besuch im Rembrandt Museum in Amsterdam, in dem der sich in ein Bild mit dem Titel Flucht aus Ägypten vertieft hat, bleibt ihm nur in „[…] mitten in dem schwarzglänzenden Firnis der Finsternis einen winzigen, vor meinen Augen […] bis heute nicht vergangenen Feuerfleck.“ [2]
Abenden im November 2007
aus:
Markus Döhne,
Transterrats,
Valencia 2008