Christel Wester
Überblendungen
Es mag Zufall sein, daß Markus Döhnes Werkreihe Arbeitsspeicher in Grüntönen gehalten ist. Vielleicht hat sich hier aber auch ein Detail aus einem Roman eingeschlichen, der für den Künstler wichtig war und ohne dessen Lektüre diese Werkreihe wohl gar nicht entstanden wäre: Im ersten Halbband von Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands begleitet der Leser einen der beiden Freunde des Ich-Erzählers nach Hause. Dort, am Küchentisch, »unterm grünen Porzellanschirm der Deckenlampe«, sieht er dessen Mutter sitzen, »von den Wänden strömte ein mattes Grün in den Raum«. Und »die nassen Fußspuren auf dem dunkelgrünen Linoleum zeigten den Weg an, den Coppis Mutter zurückgelegt hatte, um die Schüssel überm Waschbecken auszuleeren«.
Das mattgrüne Licht und das dunkelgrüne Linoleum sind sicher marginale Details in Peter Weiss’ opus magnum und wahrscheinlich erinnert sich Markus Döhne heute, gut zwanzig Jahre nach der Lektüre, nicht mehr daran. Aber Peter Weiss war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler und Filmemacher, der seine Farbpalette zu bedienen und Licht stimmungsvoll einzusetzen wußte. Häufig sind es gerade solche atmosphärischen Unterströmungen, die sich tief eingraben in jene Schichten unseres Gedächtnisses, die wir das Unbewusste nennen. Von dort wird unser Assoziationsvermögen gespeist, auf das jede Form von Kunst angewiesen ist.
Eine Vielfalt von Assoziationen ist es denn auch, die Markus Döhnes Arbeitsspeicher freisetzen. Denn auf den ersten Blick kann man nicht gleich erkennen, was sich da auf diesen grünen Farbflächen abzeichnet. Ein Blick in eine Straßenflucht, die im Zwielicht daliegt und an der sich Hochhäuser auftürmen? Hochhäuser, die nicht eben einladend aussehen, sondern wie schwarze Gerippe emporragen. Eine kastenartige Architektur, die verlassen wirkt. Rohbauten, die noch vor ihrer Fertigstellung verrotten, weil dem Investor das Geld ausgegangen ist? Entkernte Plattenbauten, die der Sanierung harren? Ein Straßenzug, der von einem Großbrand verwüstet wurde? Läßt man den Blick von Tafel zu Tafel schweifen, erkennt man, dass sie das gleiche Motiv immer wieder aufs Neue variieren. Die Bildstruktur wird immer verwirrender, das Auge frisst sich an der Rasterung fest, die nicht statisch bleibt, sondern zu flirren beginnt. Die zweidimensionale Fläche wächst in den Raum hinein, die schwarzen Gebilde geraten in Bewegung. Schubkästen sind es, die sich da auftürmen, einige offen, andere geschlossen, manche wirken ganz konsistent, die meisten aber eher
transparent und erscheinen fast imaginär.
Seit 1987 arbeitet Markus Döhne ausschließlich mit gefundenem Photomaterial. Im Falle der Arbeitsspeicher handelt es sich um eine Aufnahme von Peter Weiss, die ihn in seinem Stockholmer Atelier zeigt. Zeitunglesend steht er vor seinem Archivschrank – ein riesiger Zettelkasten, in dem Weiss nicht nur eigene Notizen aufbewahrte, sondern auch Zeitungsartikel, Photos und weiteres dokumentarisches Material, das er in seinem Werk verarbeitete. Peter Weiss’ »Arbeitsspeicher« also. Dieses Photo ist nun selbst wieder Dokumentarmaterial geworden und in einem anderen »Arbeitsspeicher« gelandet – in dem Markus Döhnes, der es fragmentiert, bearbeitet und in vielfachen Varianten reproduziert hat. Eine Hommage an Peter Weiss, mit dessen Roman Die Ästhetik des Widerstands Döhne sich Kunstgeschichte angeeignet hat. Aber zugleich ist die Werkgruppe auch eine Verbildlichung seiner eigenen Arbeitsweise, die sehr wohl Parallelen zur Montagetechnik von Peter Weiss aufweist. So wie der Schriftsteller stets dokumentarisches Material aus Historie, Zeitgeschichte und Kunst adaptierte, umarbeitete und zu einem poetischen Werk formte, ist auch Markus Döhnes Ausgangspunkt gefundenes und archiviertes Material. Und immer verweist dieses Material auf Ereignisse von politischer Tragweite. Döhne wählt die Photographie – das Dokumentationsmedium par excellence. Denn selbst heute besitzt ein Photo immer noch Beweischarakter, was eigentlich erstaunen muss, da es seit seiner Erfindung manipuliert und propagandistisch instrumentalisiert wurde.
Trotzdem schafft die Photographie so etwas wie ein kollektives visuelles Gedächtnis, das sich in Photoalben, Sammlungen, Archiven und Bibliotheken, auf Plakaten, in Zeitungen und Zeitschriften, aber auch in bewegten Filmbildern wiederfindet. Hier begibt sich Markus Döhne wie ein Dokumentarist auf Recherchetour. Indessen setzt er seine Trouvaillen nicht zu Zwecken herkömmlicher Dokumentation ein, er dekonstruiert die Bilder, bis sie nur noch markante, aber verfremdete Partikel der Realität enthalten. Die jedoch erkennen wir wieder und konstruieren erneut einen Sinnzusammenhang. Auf diese Weise macht Markus Döhne die Mechanismen sichtbar, nach denen sich unser visuelles Gedächtnis aufbaut.
Dabei wendet er ganz traditionelle Reproduktions- und Drucktechniken an, setzt sie jedoch auf ungewöhnlichen Trägermaterialien ein: Paraffin, Gaze oder Metall wie bei den Arbeitsspeichern. Viele seiner Arbeiten verlassen den Rahmen der Zweidimensionalität. So hat Markus Döhne in seinen Wachsarbeiten, die ab 1988 entstanden sind, Ausschnitte aus historischen Photos im Siebdruck auf gegossene Paraffinblöcke aufgebracht und dann wieder mit Wachs überzogen. Auf diese Weise hat er das zweidimensionale Photo als Pigment einem dreidimensionalen Körper einverleibt. In der Werkreihe Green Screens, Refugee Series., in der sich Döhne ab 1997 mit Fluchtbewegungen beschäftigte, nutzte er Gazetableaus als Bildträger, die er frei in den Raum hängte und diesen somit in seine Arbeit integrierte.
Im Falle der Arbeitsspeicher erreicht Döhne eine enorme plastische Wirkung durch das Prinzip der Schichtung, das er auf mehreren Ebenen einsetzt. Einmal auf dem Bildträger selbst, also der Metalltafel, auf die er bis zu sieben monochrome Schichten in den beiden Grüntönen aufträgt. An den Stellen, wo die verschiedenen Farbflächen aneinander stoßen, kann man regelrechte Kanten erkennen. Das andere Schichtungsverfahren vollzieht sich in der photographischen Reproduktion. Durch unzählige Kopierprozesse generierte Döhne neues Bildmaterial aus dem Ausgangsphoto, das er schließlich im Siebdruck auf die vorbehandelten Metalltafeln aufbrachte. Dieses Verfahren hat Döhne nun für dieses Buch auf den Offsetdruck übertragen. So ist dieses Buch nicht nur eine Dokumentation seiner Werkreihe Arbeitsspeicher, sondern zugleich auch ein eigenständiges Objekt, das die Reihe abschließen soll. Ursprünglich war das Experiment mit dem Peter Weiss-Photo nur als kleiner Exkurs gedacht, aber dann wucherte diese Arbeit immer weiter. 45 Tafeln in zwei verschieden Formatgruppen sind schließlich entstanden – eine Werkreihe, die eine Schlüsselstellung in Markus Döhnes Arbeit einnimmt.
Die Arbeitsspeicher sind abstrakter als die anderen Werkreihen, die immer noch narrative Komponenten und somit eine gewisse Ereignishaftigkeit aufweisen. Mit Aufstieg und Fall des Sozialismus könnte man das Thema der Paraffinblöcke umschreiben. Döhne verwendete hier Bildmaterial aus der Geschichte der europäischen Linken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei griff er auch Ereignisse auf, die nicht unmittelbar in einem Zusammenhang mit den politischen Vorgängen stehen wie etwa den Selbstmord Wladimir Majakowskis oder das Begräbnis von Kasimir Malewitsch. Ebenfalls tauchen Ikonen aus der Filmwelt auf wie Standbilder aus Buñuels Un chien andalou (1928). Unter den Wachsschichten wirken diese berühmten Bilder wie eingefroren, seltsam entrückt und dennoch präsent. Dabei führt Döhne unsere Assoziationen beständig in die Irre. Aus Begräbnisszenen schneidet er beispielsweise Ausschnitte aus den Blumenbuketts aus und reduziert das Bild in der Reproduktion auf seine bloßen graphischen Strukturelemente. So assoziiert der Betrachter plötzlich in diesem abstrahierten Bild die Nelken des Sarggestecks mit dem Revolutionsgeschehen. Als Markus Döhne 1988 die ersten Paraffinblöcke schuf, war die Implosion des sozialistischen Imperiums noch nicht absehbar. Bei ihrer ersten öffentlichen Ausstellung in Turin 1990, gewannen sie ungeahnte Aktualität.
In den Green Screens, Refugee Series. wiederum hat Markus Döhne Photomaterial aus den Archiven des Bundesgrenzschutzes mit historischen Aufnahmen aus dem Spanischen Bürgerkrieg kombiniert. Die erste Ausstellung dieser Arbeiten fiel wiederum zusammen mit dem Beginn des Kosovokriegs. Daraufhin hielten die Ausstellungsbesucher die Werkreihe für einen politischen Kommentar zur aktuellen Situation in Europa. Sie war aber vorher entstanden und Döhne verwies bereits im Titel dieser Werkreihe auf die Doppelbödigkeit seines bildnerischen Verfahrens.
Green Screens erinnert an die monochrom eingefärbten Hintergründe, die in den elektronischen Medien, insbesondere im Fernsehen, dazu dienen, fremde Bilder in bestehende einzublenden. Bei Filmaufnahmen im Studio transportiert man auf diese Weise beispielsweise Landschaften ins Set und plötzlich erscheint in einem lediglich Blau oder Grün hinterleuchtetem Wohnzimmerfenster ein Abendhimmel. Genau so funktionieren nicht nur Markus Döhnes Green Screens, sondern alle seine Arbeiten. Nur ist es hier die menschliche Assoziationstätigkeit, die die Bilder kreiert. Was den Künstler dabei interessiert, ist die Ikonographie, nach der unsere innere Bildgenerierungsmaschine arbeitet. Und die wird geprägt von dem medialen Bilderfluss, mit dem wir ständig konfrontiert sind, aus dem sich aber nur die ganz markanten Partikel in unserem visuellen Gedächtnis festsetzen. Welche das sind, das untersucht Markus Döhne beständig in den Lagerstätten unserer Bilderwelt: den Archiven. Aber nicht nur dafür hat er in seiner Werkreihe Arbeitsspeicher eine treffende Metapher gefunden. In den Schichtungen und Überlappungen des Bildaufbaus manifestiert sich zum einen der Arbeitsprozess des Künstlers. Gleichzeitig bringt er dem Betrachter seine eigene Assoziationstätigkeit ins Bewusstsein, die sich aus seinem inneren »Arbeitsspeicher« speist. Der Titel der Werkreihe ist wiederum aus der Computersprache entlehnt und verweist auf die nahe Zukunft, in der Zettelkästen ausgedient haben und von digitalen Datenspeichern abgelöst sein werden. Auch dieser historische Umbruch ist in Markus Döhnes Arbeitsspeicher enthalten.
aus:
Markus Döhne,
Arbeitsspeicher,
Köln 2005